Vorsfelde. Ihr Überleben hing am seidenen Faden, als eine Gewitterfront mit Starkregen über die Region zog.

Eifrig trainieren die beiden Jungstörche in der Langen Straße 38 ihre Flugmuskulatur. Ihnen steht, anders als dem Nachwuchs der meisten umliegenden Horste, der Jungfernflug noch bevor. Doch dass die Storchenzwillinge überhaupt aufwachsen, ist angesichts der wechselvollen Ereignisse dieser Brutsaison keine Selbstverständlichkeit.

Störchin verliert ihr rechtes Bein

Erst blieb der seit einem Jahrzehnt ansässige und ab Mitte Februar erwartete männliche Nestinhaber aus. Die Lücke schloss Anfang März ein junges Männchen aus Leiferde, das 2016 auf einem Nistmast im Nabu-Artenschutzzentrum geschlüpft und beringt worden war. Es schritt mit einer unberingten Störchin zur Brut, bis diese, vermutlich durch Kollision, ihr rechtes Bein verlor. Etwa dreizehn Zentimeter oberhalb der Zehen war es abgetrennt, der Stumpf hing an den Sehnen herab. Diese erschütternde Beobachtung meldete mir Reinhold Wagner am 12. April. Damit klärte sich die Nestzugehörigkeit, denn der schwer verletzte Vogel war seit elf Tagen wiederholt im Entsorgungszentrum gesichtet und durch Rita Lunde fotografiert worden. Nach ihren Feststellungen lernte das Tier, sich bei der – zuweilen durchaus erfolgreichen – Nahrungssuche auf den Beinstumpf zu stützen.

In Vorsfelde wird die Brut abgebrochen – das Paar trennt sich

So keimte Hoffnung auf eine Überlebenschance auf, zumal sich im Landkreis Kassel ein als „Karl“ bekanntes Storchenmännchen mit gleichartiger Behinderung schon das dritte Jahr in freier Wildbahn zurechtfindet und sogar verpaart ist. Aber in Vorsfelde wurde die Brut abgebrochen, und das Paar trennte sich, woraufhin die einbeinige Störchin umherirrte, bis sich am 11. Mai im Kreis Celle ihre Spur verlor.

Storch findet eine neue Partnerin

Doch für das vierjährige Männchen ergab sich eine zweite Chance. Es fand eine neue Partnerin, mit der es in der letzten Maiwoche zwei Küken ausbrütete. Deren Überleben hing am seidenen Faden, als am
13. Juni eine Gewitterfront mit Starkregen über die Region zog, der anderenorts mindestens zwei Weißstorchbruten ähnlichen Alters zum Opfer fielen. Erleichtert stellte ich drei Tage später fest, dass die Vorsfelder Jungstörche wohlauf waren, als ich sie mit dankenswerter Unterstützung durch die Freiwillige Feuerwehr beringte. Seither entwickeln sie sich, ihrem Alter entsprechend, gut und werden rechtzeitig zum Herbstzug flügge sein. So setzt sich die Bruttradition an dem seit 1860 bestehenden Standort auf dem Schornstein des „Storchenhauses“ fort.

Weißstorchbetreuer Georg Fiedler schreibt exklusiv für unsere Zeitung regelmäßig über die Entwicklung der Störche in Wolfsburg und Umgebung.